Wenn es in einer Organisation keine Führungsebene gibt, dann müssen die Mitarbeiter gemeinsame Entscheidungen treffen. Das kann recht ungemütlich und aufwendig werden, denn gemeinsam zu leichten, flüssigen, sinnvollen Entscheidungen zu kommen, dass stand bisher zumeist nicht auf dem Lehrplan.

Leben und Arbeiten in Gemeinschaft

Ich habe mit der gemeinsamen Entscheidungspraxis in Gruppen einige Erfahrung, die wahrscheinlich viele nicht machen konnten. Ich lebte für 17 Jahre in einer großen Gemeinschaft, in der zu dieser Zeit ungefähr 80 Erwachsene (+15 Kinder) lebten. Wir unterhielten ein Unternehmen und einen gemeinsamen Wohn- und Lebensort. Wir fällten alle Entscheidungen, welche Gemeinschaft, Lebensort und Unternehmen, betrafen gemeinsam. Das ging von: „zu welchen Mahlzeiten gibt es Kaffee“ bis zu „welches Energiekonzept wollen wir baulich an unserem Platz verwirklichen“. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob die Energiekonzeptentscheidung länger dauerte als die Kaffeeentscheidung, oder eher umgekehrt. Solange ich mich zurück erinnern kann fällten wir unsere Entscheidungen nach dem Konsensprinzip. Dafür hielten wir Meetings in großen Runden mit 40 oder mehr Gemeinschaftsmitgliedern ab.

Politik wird gemacht

Im Vorfeld dieser großen Meetings gab es sehr viele offizielle und private Gespräche in kleineren Runden zur Vorbereitung der Entscheidungen. Zu den gemeinsamen Entscheidungsplenen kamen die Menschen dann mit ihrer Meinung zum Thema, die meist schon sehr fest und emotional aufgeladen war. Oft gab es auch mehrere unterschiedliche Meinungslager: man fand sich zusammen mit denen, die dieselben Überzeugungen zum jeweiligen Thema hatten. Jeder war in unterschiedlicher Tiefe themenkundig oder unkundig. Im Meeting dann wurde das Entscheidungsthema vorgestellt und daraufhin konnten dann alle, die wollten, ihre Meinung dazu aussprechen. Das war die große Geduldsprobe. Nicht immer sind wir damit in einem Meeting fertig geworden. Oft waren wir uns am Ende über die Entscheidung einig. Sehr oft war der einzelne nicht wirklich zufrieden mit der „Einigung“.

Manchmal gab es auch richtige Kämpfe um den Ausgang der Entscheidung. Nach den Meetings sagten wir manchmal im Spaß: „schade, dass uns keiner sagt, was wir tun sollen“. Eine besondere Spezialität, die sich eingeschlichen hatte: es gab alteingesessene Gemeinschaftsmitglieder, deren Statements wichtiger genommen wurden als die anderer „normaler“ Mitglieder. Wenn diese „Alten“ sich äußerten, konnten sie die Entscheidung maßgeblich beeinflussen. Dieses Verhalten und seine Wirkung blieben von allen Seiten weitgehend unbemerkt und dadurch auch unreflektiert.

Immer wieder machten sich die Schwierigkeiten unserer gesamten Vorgehensweise recht krass bemerkbar – vorrangig in den menschlichen Beziehungen und den langwierigen Prozessen, die oft die, eigentlich einfache, Umsetzung blockierten.

Wir müssen etwas verändern

Daher begannen wir GFK zu lernen. Das veränderte unsere Sprache, machte die Meetings noch länger (jeder musste jetzt wirklich gehört werden). Ich selbst fühlte mich erschöpft und blieb den Meetings immer öfter fern (damit war ich nicht die Einzige). Heimlich dachte ich mir: „wir machen hier Politik und darauf habe ich keine Lust“. Trotzdem versuchte ich mich einige Zeit in der „Lobbyarbeit“ mit meinen Freundinnen. Wir wollten unsere Gemeinschaft verbessern. Leider sind wir dadurch natürlich auch nicht aus der Politik ausgestiegen. Eine andere Idee hatten wir aber damals nicht. Dann wurde Holacracy zum Geheimtipp für eine bessere Entscheidungskultur. War gar nicht so schwer, Arbeitskreise hatten wir ja schon. Diese Kreise hatten nun mehr Entscheidungsbefugnisse. Die großen Meetings sind dadurch weniger geworden. Und manch einer, der früher trotz all der GFK und so nicht zu Wort gekommen ist, der „darf“ jetzt auch mitreden. Eindeutig hatten wir hier eine Form eingeführt, die nicht aus unserem Inneren gefunden wurde. Wir suchten so sehr eine Lösung für unsere Problematik mit den langsamen und mühevollen Entscheidungen und der, daraus resultierenden Schwierigkeiten. Intelligenter ist die Entscheidungsfindung dadurch nicht geworden, da es in unseren Lösungsbemühungen nicht um Inhaltswissen ging sondern um Anwendungswissen.

Ich will hier weg

Die gesamte Situation hatte mich inzwischen so frustriert, dass ich die Gemeinschaft verließ. Ich war doch wegen des Gegenteil in diese Gemeinschaft eingestiegen: ich wollte mit anderen gemeinsam einen neuen Lebensentwurf gestalten. Ich wollte weg von Regelwerken, sinnleeren Vorschriften und von außen kommenden Formen. Ich wollte mit anderen gemeinsam von innen heraus die Gesellschaft transformieren. Mein Fazit: Gemeinschaft kann nicht funktionieren. Nie wieder werde ich auf dieses Pferd setzen! Meine Resignation war grundsätzlich. Ich brauchte einige Jahre, um das anzuerkennen. Ich wusste erstmal nichts Neues mit mir anzufangen. Ich probierte aus und stieß, (seltsamerweise) erneut auf eine Art von „Gemeinschaft“. Erfreulicherweise dauerte es dieses Mal nicht so viele Jahre, bevor diese sich als Fehlschlag erwies. Und erfreulicherweise blieb aus diesem Versuch ein harter (oder weicher?) Kern übrig. Eine kleine Handvoll Menschen, die es wissen wollten. Jetzt ging es nicht mehr um Gemeinschaftsaufbau, sondern um die Frage, wie der Mensch eigentlich wirklich funktioniert. Wir wollten die Natur des Menschen verstehen, um die Grundlage für eine funktionierende Zusammenarbeit unter Menschen finden zu können.

Die Natur als Lehrmeister

Also haben wir Biologie, Neurowissenschaft, Entwicklungspsychologie und altes vedisches Wissen studiert, uns selbst zu Forschungsobjekten gemacht und aus alledem nach und nach unsere Erkenntnisse gezogen. Nach zwei Jahren tiefer Forschungsarbeit wissen wir nun, dass es möglich ist und wie es möglich ist. Der Mensch ist von Natur aus zur Kollaboration geboren. Er durchläuft in seiner Entwicklung Stufe um Stufe der Bewusstseinsreifung hin zu seinem vollen Potential. In seinem vollen Potential ist er zu höchsten Denkleistungen fähig und kann mit jedem Menschen, Thema und jeder Sache in Kollaboration gehen. Dieser Mensch weiß, was seine Kräfte sind, was ihn ausmacht und wie er sein Leben passend zu seinem Sein gestalten kann. Er kennt keine Abhängigkeiten, keine Politik und vieles andere, was heute unsere Zivilisation ausmacht, auch nicht. Er sucht immer nach dem Grundlagenwissen und ist daher nicht konditionierbar. Diesen natürlich ausgereiften Menschen gibt es heutzutage kaum noch. Weil jeder von uns von Kindheit an, durch unser selbst geschaffenes Erziehungs- und Bildungssystem, daran gehindert wird sein Bewusstseinspotential in allen Stufen auszureifen. Der heutige Mensch benötigt eine Zeit des Nachreifens, um sein volles Bewusstseinspotential zu erlangen. Erst dann ist er vollständig erwachsen und wird für sich, seine Kinder und seine Mitwelt entsprechend handeln. Er kennt seinen eigenen Sinn und will den Sinn und die Wahrheit von allem, was ihm begegnet ergründen. Ein Weltprogramm wie die 17 Goals for Sustainability ist dann nicht mehr notwendig, da es ja intrinsisch verantwortlich Handelnde gibt.

Ein Rahmen für die gemeinsame Entwicklung von Themen

In unserer Forschungszeit haben wir zusätzlich eine Vorgehensweise entwickelt für die Kollaborative Entscheidungsfindung in Teams. Diese Vorgehensweise stellt sicher, dass in einer Themenbearbeitung die Verschiedenheit und das Wissen aller Kollaborationsteilnehmer zusammenkommen. Dabei evolviert das Team gemeinsam das Thema und entdeckt die sinnvollste Lösungsfindung passend zur Gruppe.

Ich kann mir inzwischen wieder vorstellen Teil einer Gemeinschaft zu sein. Ich weiß jetzt, dass ein Zusammenleben und Arbeiten möglich und sogar fruchtbar ist. Ich bin mir sicher, dass Menschen erfolgreich gemeinsam alle erdenklichen Herausforderungen meistern können. Und ich habe sehr große Lust darauf das zu erleben.


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